Erinnerungen an das Kriegsende (13)

von Reiner Schmidt

(*1935) Schloßstraße, aufgeschrieben von Otto Schmidt im November 2008.

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges war ich viereinhalb Jahre alt.
Vor der Evakuierung in Baden war ich öfter bei meiner Tante Maria (geb. Schäfer) in Westerfilde (heute Volksbank) zu Besuch gewesen. Ihr Mann, mein Onkel Bruno (Richert) ist schon 1942 bei Leningrad gefallen.
Wenn Fliegeralarm war, sind wir durch den Garten über den stinkenden Zechenbach (Ölbach), am Zwangsarbeiterlager vorbei, über den Zechen-sportplatz zu dem Luftschutzbunker gelaufen (nach dem Krieg Lehrstollen für Bergjungleute). Nach der höchsten Stufe des Bombenalarms war im Bunker alles dunkel (Verdunkelungspflicht). Jeder hatte seine Weise, mit der Angst fertig zu werden: Man hörte nur das Klicken der Alu-Stricknadeln. Frauen strickten im Dunkeln Pullover mit Muster. Oder man hörte Murmeln, auch lautes Beten. Wenn die Bomber kamen, wir waren im Bunker oder zu Hause, habe ich immer gebetet: „Hilf Maria, es ist Zeit, Mutter der Barmherzigkeit …“. Das hat mich so begleitet, dass ich nach dem Krieg, zu meiner eigenen Verwunderung und der meiner Freunde, ohne Murren lange in die Maiandacht gegangen bin.

Die Evakuierung

Durch die vielen Bombenangriffe und durch abgeworfene Flugblätter der Engländer war 1943 wohl jedem klar, dass er in seiner Heimat nicht mehr sicher war. Berlin und danach das Ruhrgebiet als Waffenschmiede des Reiches waren die Ziele der feindlichen Bomber. Bunker und Luftschutzräume waren schon oder wurden noch gebaut. Andere Gebiete des Reiches galten noch als sicher.
Auch die Kinder aus Bodelschwingh sollten möglichst mit ihren Müttern evakuiert werden. In der Hans Schemm – Schule in Westerfilde wurde von einem Parteigenossen ein Vortrag gehalten, was den Kindern mitgegeben werden sollte. Der Mann stand auf der Innentreppe der Schule. Meine Mutter hatte mich mitgenommen. Immer, wenn eine Anordnung auf „inneren Widerstand“ stieß, die notwendigen Sachen für die Kinder nicht vorhanden waren, riefen die Frauen im Chor: „Haben ein Gewehr und dann schießen“.

Mein Bruder Jürgen und ich kamen mit der Eisenbahn nach Singen (heute zur Großgemeinde Remchingen gehörend) bei Wilferdingen in Baden. Der Ort liegt zwischen Pforzheim und Karlsruhe. Unsere Eltern haben uns bis zu der Gastmutter begleitet. Die Familie hatte einen Kotten; der Mann war Soldat. Im ganzen Ort waren praktisch nur Frauen und wenige, alte Männer. Die Dorfgemeinschaft hatte auf Selbstversorgung und Tauschhandel umgestellt. Alles, was man zum Leben brauchte, wurde selbst erzeugt. Für die Feldarbeit und den Transport gab es keinen Trecker, kein Pferd. Alles, was bewegt werden musste, wurde von Kühen, oder den Frauen und Kindern selbst gezogen.
Wir Kinder, die jetzt zusätzlich als Esser am Tisch saßen, mussten kräftig mit anpacken und unser Brot verdienen: Feldarbeit, Kleintierversorgung, Botengänge. Die Jugend am Ort war die schwere besser Arbeit gewohnt; von uns „Städtern“ fiel so mancher um.
Heute ist Kinderarbeit verboten und das ist gut so. In der Evakuierung und auch in der Nachkriegszeit konnte man sehen, was so schwere Arbeit aus Kindern macht.
Schon bei der Ankunft am Bahnhof wurde mir auch als Kind klar, „wo der Hase her lief“: Einige Gastmütter suchten ihre Pflegekinder danach aus, ob sie gut bei der Arbeit mithalten konnten. Sie fühlten die Muskeln ab und ließen sich die Zunge heraus strecken; das war wie auf dem Vieh- oder Sklavenmarkt.
Der Krieg war für unser Gefühl jetzt ein Stück weiter weg. In der Nähe des Ortes lag war eine Bahnlinie, die zur Westfront führte. Hier gab es auch die ersten Westwallbunker. Wir Kinder sind während einer Übung in so einem Bunker gewesen. Die Bunker waren viel größer und besser ausgestattet als bei uns zu Haus.

Mein Bruder Jürgen wurde in Singen eingeschult. Er war immer nur traurig und wollte (und konnte) dem Unterricht nicht folgen. Als Strafe dafür gab es dann Stockschläge in die Hand. Meine Eltern haben uns in der Evakuierung zweimal besucht. Die Lehrerin hat sich über meinen Bruder beschwert. Sie hätte das Elend sehen sollen: Mein Bruder wollte unsere Mutter beim Abschied nicht loslassen. Er wurde praktisch von ihr losgerissen. Wir hatten zu Essen und eine Schlafstelle. Für unsere Seele war vor lauter Plackerei keine Zeit.
Dieses eine Jahr der Evakuierung, so wie ich es heute sehe, ist mitbestimmend für das Lernverhalten meines Bruders in der Jugend gewesen.
Anfang Juni landeten die Alliierten in der Normandie. Damit wurde für uns das Ende der Evakuierung eingeleitet. Durch Mund zu Mund Propaganda verbreitete sich das Wissen um die zurückweichende Westfront. In Singen waren wir nicht mehr sicher. Der Anfang der Evakuierung war organisiert gewesen; das Ende mussten die Eltern selbst bewältigen. Heimlich und ohne Absprache untereinander holten die Eltern ihre Kinder zurück nach Haus. Unsere Eltern machten sich mit zwei Fahrrädern und dem Zug auf den Weg nach Singen.
Am Abend kamen sie bei unserer Pflegemutter an. Dann wurde schnell gepackt und Abschied genommen. Mein Bruder saß bei meiner Mutter auf dem Gepäckträger, ich bei meinem Vater auf einem Kissen vorn auf der Stange. Unsere Habseligkeiten hatten beide in Rucksäcken verstaut. Am nächsten Morgen sind wir am Bahnhof Mengede angekommen und durch den schwarzen Weg nach Haus gefahren. Zu Haus angekommen, sind alle ins Bett gefallen.
Einen Tag später habe ich gesehen, dass die Sauerkirschen im Garten reif waren. Ich bin auf unseren Ziegenstall geklettert und ich hab mir einige schmecken lassen; wir müssen also im Juli wieder zu Haus gewesen sein.
Der versprochene „Endsieg“ rückte immer weiter weg; die Bombardierungen wurden immer schlimmer. Unser Vater hatte im Keller für uns alle Etagenbetten aus Brettern gebaut. So konnten wir bei Fliegeralarm schnell in den daneben liegenden kleinen Luftschutzbunker gehen.

Die Lebensmittel sind knapp, die Kinder müssen mithelfen.

Auch bei uns bestimmte die Eigenversorgung, die Sorge um das tägliche Brot allein den Tagesablauf. Wir hatten Hühner, Kaninchen, eine Ziege und einen Garten.. Der Garten wurde bis zur letzten Krume für Kartoffeln und, wenn noch Platz war, für Gemüse (Kappes) genutzt.
Hühner legen nur Eier, wenn sie etwas zu fressen bekommen: Also wurde auf den Feldern „nachgestoppelt“, an den Wegrändern Gras und Kräuter gerupft. Das galt natürlich auch für die Kaninchen und die Ziege. Auf der Straße musste ich Pferdeäpfel aufsammeln. Sie waren Dünger für den Garten. Wenn mein Vater nach Haus kam, hat er alles streng kontrolliert.
Wir hatten entfernte Verwandte in der Mengeder Heide, in der Rittershofer Straße. Die hatten einen kleinen Gärtnereibetrieb und eine Kuh. In der Not erinnert man sich an Verwandte, auch wenn die sich vielleicht wundern. Gesagt haben sie aber nichts. So konnte ich öfter mit der Milchkanne für unsere Zwillinge Otto und Rita Milch aus der Mengeder Heide holen. Onkel Hermann Peickenkamp und seine Frau Trautchen konnten nicht „Nein“ sagen; dafür habe ich sie immer geachtet!
Auf meinem Weg von Bodelschwingh kam ich über die Siegenstraße in die Mengeder Heide. Um den Weg abzukürzen und Deckung zu haben, bin ich hinter der Emscher auf einem Feldweg am Urnenfeld (Römerzeit) vorbei zur Rittershofer Straße gegangen. Wenn ich mich richtig erinnere, war am Waldsaum, in der Nähe des heutigen Bezirksfriedhofes, eine deutsche Batterie mit Geschützen in Stellung gegangen; mit Schussrichtung „Bodelschwingher Berg“.
Auch nach Kriegsende bin ich noch zu den Verwandten gegangen und habe Milch geholt (s. u.).

Der Onkel auf Heimaturlaub

Mein Onkel Rolf (Ridasch) war bei der Luftwaffe in Polen, in der Festung Breslau. 1944 kam er auf Heimaturlaub und hat uns besucht. Es war Abends und er konnte nicht nach Dortmund zurückfahren. So hat er mit meinem Vater im Ehebett geschlafen. Ich durfte in der Mitte liegen. Ich sollte schlafen, habe aber nur so „getan“ und dem Gespräch gelauscht. Mein Onkel sagte zu meinem Vater: „Otto, der Krieg ist nicht zu gewinnen. Wenn die Polen und Russen nach hierhin kommen und uns das antun, was wir ihnen angetan haben, dann Gnade uns Gott“. Den Onkel kannte ich auch vorher schon in Ausgehuniform; da sah er gut aus. Jetzt wirkte er irgendwie anders, verändert, grau, einsilbig. Er ist gefallen. Wo, das wissen wir nicht.

Die Bomber kommen jetzt auch tagsüber

Ab Herbst 1944 gab es häufig Bombenalarm. Jetzt wurde auch tagsüber durch Engländer und Amerikaner bombardiert und geschossen. Zum Ende des Krieges funktionierte der Luftschutz nur noch teilweise. Es blieb einem nichts anderes übrig, als sich irgendwo eine Deckung zu suchen. Ich erinnere mich, dass ich in unserer Straße bei dem Lehrer Schüttler (heute Haumann) auf der Suche nach Löwenzahn war. Der war am Ende des Gartens unter Johannisbeersträuchern gewachsen. Als ich den Zaun hochdrückte, man durfte sich ja nicht erwischen lassen, hörte ich das bekannte Geräusch eines heranfliegenden Jagdbombers (JaBo). Der kam aber nicht, wie sonst von Nord- oder Südwesten, sondern von Osten. Der Pilot flog so tief, dass ich ihn in der Kanzel sehen konnte. Ich lag unter dem Zaun und dachte, dass mein Ende gekommen sei. Geschossen hat er aber nicht und hat in einer Steilkurve nach Nord- Osten beigedreht. Er ist dann noch einmal wiedergekommen. Heute meine ich zu wissen, dass es ein amerikanischer Jagdbomber vom Typ Thunderbolt war, dessen Ziel die Benzolreinigung Hansemann in Mengede war.
Ende Februar 1944 erhielten wir die Nachricht, dass mein Onkel Alfred, der jüngste Bruder meines Vaters, mit 34 Jahren gefallen war. Das war bei Schwarzwasser / Schlesien, heute Strumien in Polen.

Ab Mitte Februar 1945 führten die Alliierten das Ruhrabriegelungsprogramm (Ruhrkessel) durch. Darin war die Zerstörung der gesamten (noch nicht zerstörten) Infrastruktur, Bahnanlagen, Transportwege, Brücken, Industrieanlagen und Städte beschlossen. Die Jagd-Bomber schossen jetzt auf alles, was sich bewegte, so auch auf einen Personenzug, der in Richtung Östrich fuhr. Das Jaulen der Tiefflieger kann ich nicht vergessen.
Die Menschen waren so „fertig“ durch die ständigen Luftangriffe und die vielen Tote, dass sie, auch wenn sie keine Nazis waren, nach „Strohhalmen“ der Hoffnung griffen. So waren Gerüchte im Umlauf, dass der Führer zur Rettung des Ruhrkessels Wunderwaffen einsetzen würde. Es klingt wenig glaubhaft, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich am Abendhimmel über dem Münsterland rote Feuerstreifen gesehen habe. Dazu wurde gesagt, dass das Raketen seien, die England in Schutt und Asche legen würden. Heute weiß ich, dass V2-Raketen aus dem Raum des westl. Münsterlandes gestartet worden sind. Dass die Startrampen für die Raketen nach der Invasion der Alliierten und deren Vorrücken bis zum Rhein aus Holland zurückgezogen worden waren, wurde nicht erzählt.

Der Zwang zum Jungvolk

Gegen Ende des Krieges sollte ich zum Jungvolk kommen. Ich wollte das aber nicht und meine Eltern auch nicht. So einfach konnten die Eltern aber nicht „Nein“ sagen, ohne sich selbst zu gefährden. Deshalb haben meine Eltern nach Ausreden gesucht, mit mir auch darüber gesprochen. Der Gruppen- oder Horden-Führer, ich weiß nicht mehr, wie der genau hieß, kam jedes Mal mit seiner Truppe, um mich zur Gruppenstunde abzuholen. Als die Ausreden „verbraucht“ waren, half nur noch eins: Ich war plötzlich krank geworden und lag im Bett, als es wieder klingelte. Der Leiter sollte sich überzeugen, dass ich krank war, wollte das aber nicht. Er zog ab mit den ihm „Anvertrauten“ mit der Bemerkung: „Egal wie: „Wenn Ihr Sohn beim nächsten Mal nicht kommt, gibt es Hordenkeile“. Die sich überstürzenden Kriegsereignisse hatten dann das Problem gelöst.

Das Gesicht, die Fratze des Krieges

Bei der Bombardierung von Westerfilde, ich meine 1945, genau kann ich mich nicht erinnern, hieß es: „Ein Bomber ist im Westerfilder Wald, in der Nähe der Straße Am Luftschacht runtergekommen (abgestürzt)“. Ich weiß noch, dass die Leute sich gar nicht mehr so sehr über einen abgestürzten Bomber aufgeregt haben.
Zu dieser Zeit waren bei uns Jungens Fletschen sehr beliebt. Um eine gute, weit tragende (feuernde) Fletsche zu bauen, brauchte man u. a. eine Astgabel vom Fliederbaum und Gummistreifen aus Naturkautschuk. Die gab es in den ersten Kriegsjahren noch von Fahrrad- oder Motorrad-schläuchen, aber dann nicht mehr.
Wo ein Flugzeug ist, sind auch Räder und Schläuche. Deshalb sind wir, Werner Pradel(+), Ulli Müller und ich nach Westerfilde gegangen, um von dem Bomber Fletschen-Gummi zu holen. Als wir in der Nähe der vermuteten Absturzstelle waren, sahen wir einen Bewacher. Wir haben uns so lange versteckt, bis er weg war. Dann sind wir zu dem Bomber hingeschlichen.
Als erstes sah ich einen Flieger-Soldaten, von hinten, in halb sitzender Haltung schräg an einem Baumstamm gelehnt. Auch Reste von dem Flugzeug hatte ich gesehen, die hatten mich dann aber nicht mehr interessiert. Ich hatte noch nie einen toten Feind gesehen. Nur dieser Flieger zog mich in seinen Bann. Beim Näherkommen sah ich, dass er eine Lederjacke mit Pelzkragen trug. Das Gesicht war verbrannt. Die Schädeldecke fehlte. Sie war einfach weg, der Kopf hohl wie eine Kürbisfackel. In der Nähe lag noch ein Flieger. Dessen Körper endete an der Hüfte. Bei ihm waren die Beine weg. Die anderen Flieger lagen bestimmt auch irgendwo. Wir haben uns dann Gummistreifen aus den Schläuchen geschnitten und sind nach Haus geschlichen. Der Schrecken über das Erlebte saß aber noch nicht tief genug; am nächsten Tag sind wir noch einmal hin gegangen. Irgendeiner hatte nicht dicht gehalten, jetzt waren noch mehrere Jungs da und holten sich ebenfalls Fletschen-Gummi.
Ich bin dann noch einmal zu dem Flieger hingegangen. Der lag jetzt auf der Seite auf dem Waldboden. Die Jacke war weg. Eine Hand war verstümmelt. Am Vortag hatte ich gesehen, dass er einen dicken Goldring getragen hatte. Jetzt waren Finger und Ring weg. Meine Eltern, denen ich wohl noch nichts gebeichtet hatte, sind mit mir zu Dr.Pelken gegangen, weil ich in den Nächten dauernd geschrien habe.
Ich hatte die Fratze des Krieges und des Todes gesehen. Als Medizin durfte ich zwei Wochen bei meinen Eltern im Bett „in der Mitte“ schlafen.

Für meinen Bruder und mich war bis zu diesem Zeitpunkt klar: Wenn wir groß sein würden, würden wir auch Soldaten sein. Unser Onkel Rolf war bei der Luftwaffe gewesen und gefallen. Wir wussten: Soldaten müssen auch sterben. Also wollten wir zur Luftwaffe, und, wenn es so sein sollte, den „schnellen, heißen“ Tod sterben, nicht im Dreck, im Stellungsgraben an der Front, sondern im Flugzeug. Die toten verstümmelten Flieger im Wald hatten dann unsere Einstellung grundlegend geändert.

Die FLAK in der Nähe vom Güterbahnhof

Parallel zur Straße Im Orde, ganz in der Nähe vom Güterbahnhof Bodelschwingh, etwa auf einer Länge von 200 Metern, war eine deutsche Batterie mit vier Luftabwehrkanonen (Flak-40) auf Eisenbahnwagen in Stellung gegangen. Gesehen habe ich sie nicht, da durfte man sich nicht blicken lassen. Die Kommandos für die Kanonen (FLAK) wurden von der Feuerleitstelle über Lautsprecher gegeben. Das Kommando „Feuer“ mit dem anschließenden „Rumms“ konnte man in ganz Bodelschwingh hören.
Irgendwann waren die Kanonen weg; eine Lokomotive hatte die ganze Batterie abgeholt.

Die Zurückstellung des Vaters vom Wehrdienst

Mein Vater war vom Dienst mit der Waffe zurückgestellt. Er arbeitete in einem kriegswichtigen Betrieb, in der Kokerei-Abteilung der Gelsenkirchener Bergwerks AG, Gruppe Dortmund. Dort war er für die Meß- und Reglungstechnik der Kokereien eingesetzt. Die Zurückstellung gab es nicht umsonst. Neben seiner Arbeit war er Mitglied der Gasschutzwehr und des Luftschutzes auf der Kokerei Hansa und der (Kriegs)Feuerwehr in Bodelschwingh. Der Luftschutzeinsatz während der Bombenangriffe auf der Kokerei Hansa hatte wohl das größte Angstpotential (wenn die Gasometer hochgehen, komme ich nicht wieder). Nach den Bombenangriffen auf Westerfilde haben seine Feuerwehr-Kameraden und er Verletzte und Tote geborgen. Ich hatte ihm von zu Haus einen Henkelmann mit Kartoffeln zur Bäckerei Nöthe gebracht, damit er nicht „umkippte“ bei der schweren Arbeit. Frau Nöthe lag in den Bunkertrümmern unter dem Backofen und konnte nicht leben und nicht sterben.
Eine Ausbildung an der Waffe hatte mein Vater, so wie viele seiner Kollegen, nicht gehabt. Es blieb nicht aus, dass er von Berufskollegen in ihrer Not angefeindet wurde: „Warum werden wir jetzt eingezogen und Du nicht“?. Sie hatten „nur“ drei Kinder und wurden noch 1944 eingezogen. Er hatte vier Kinder und war noch nicht „drann“.
Als nach dem Krieg die Entnazifizierung (Persilscheine, 1949), bei der er auch zu Kollegen als Zeuge befragt wurde, abgeschlossen war, fragten ihn einige (schon wieder), wo er denn gedient hätte.

Die Heimatfront

Mit Jugendlichen, Freigestellten und alten Männern sollte die Heimat verteidigt werden. Ich weiß nur von meinem Vater, dass er mit anderen Männern zum Volkssturm eingeteilt war.
Sie sollten Bodelschwingh verteidigen. Dazu wurden sie vor dem Büschchen von Bauer Grollmann, westlich vom katholischen Friedhof, nordwestlich der Autobahn, in dem Gebrauch von Panzerfäusten unterwiesen.

Das Ende des Krieges, Bodelschwingh liegt noch zwischen den Fronten.

Durch die explodierenden Bomben und Granaten gingen die Fensterscheiben zu Bruch. Ersatzglas gab es nicht mehr; die Scheiben zu ersetzen war ja auch sinnlos. Als Ersatz wurde Ölpapier, in das ein Gitter von Baumwollfäden eingelegt war, an die Fensterrahmen genagelt. Das gab bei der Druckwelle nach. Nach draußen gehen konnten wir nicht; man durfte sich nicht blicken lassen, Lebensgefahr! Ich hatte an unserem Wohnzimmerfenster das Ölpapier so präpariert, dass es ich es etwas zurückbiegen und dann nach draußen sehen konnte. Ich konnte sehen: Deutsche Soldaten kamen auch in die Schloßstraße.
Neben uns, vor dem Garten der Familie Vormbaum (Herr Vormbaum war Vorsteher des Güterbahnhofs Bodelschwingh gewesen) stand ein Cabrio mit einem Holzvergaser auf dem Kofferraum-Boden. Über die Rücksitze ragten die Sprenggranaten der Panzerfäuste. In unserem Garten hatte morgens ein Offizier mit mehreren Soldaten und Funkgeräten Stellung bezogen. Der Offizier sah ordentlich aus; die Soldaten „abgerissen“ und ohne Stahlhelm. So sieht und bewertet das ein Kind!
Mein Vater tat das Falsche und fragte den Offizier: „ Ist das denn wirklich nötig, der Krieg ist doch bald vorbei und wenn die Amis rauskriegen, wo sie sind, werden wir hier beschossen. Wollen Sie das wirklich?“ Der Offizier sagte ihm darauf: „Wir verteidigen Deutschland, nicht Sie oder Ihre Familie und schon gar nicht Ihr Haus. Also seien Sie froh, wenn ich Sie nicht wegen Wehrkraftzersetzung anzeige“. Am Abend gaben sie ihre Stellung in unserem Garten auf. Zwei Tage später sollen sie alle tot gewesen, gefallen sein.

Über das Ende des Krieges wird auch von anderen aus Bodelschwingh berichtet. Deshalb will ich hier nur erzählen:
An den Granatbeschuss der Amerikaner hatte ich mich schon gewöhnt (so seltsam, wie das klingt). Meist von Mengede kommend, hörte man im Bunker sitzend ein Pfeifen und wusste, solange es pfiff, war man nicht getroffen. Vor den Granaten warnte auch keine Luftschutzsirene. Dann kam aber etwas, was ich nicht erwartet hatte: Bei einem Angriff pfiff es nicht mehr, sondern knallte nur noch. Eine Granate hatte einen Betonsturz unseres Balkons getroffen. Die Splitter hatten die Küche der Familie Rüsing zerlegt, Teile der Balkonbrüstung waren in den Kellereingang gefallen. Niemand war verletzt, also ein geringer Schaden.

Die Amerikaner kommen

Nach dem Artilleriebeschuss kamen die Stoßtrupps der Amerikaner im Schutze der Sherman-Panzer (M4). Der erste Eindruck war das fürchterliche Geräusch der Panzer. Das abgrundtiefe Dröhnen der Motore wurde nur noch übertönt durch das Quietschen der Ketten, wenn der Panzer die Fahrtrichtung änderte. Vor dem Garten von Vormbaum (unser Nachbar) hielt einer an. Der Garten war mit einem Zaun zum Bürgersteig gesichert. Der Panzer fuhr rückwärts und machte den Zaun platt, drehte auf der eigenen Achse und fuhr dann in die Deckung unter die Birnenbäume. Das hat mich sehr beeindruckt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges

Nachdem Bodelschwingh durch die Amerikaner erobert oder befreit war, wurde mein Elternhaus (Schloßstraße) beschlagnahmt und als Lazarett genutzt. Innerhalb von Stunden mussten meine Eltern und wir vier Kinder aus dem Haus. Mitnehmen durften wir nur das Notwendigste. Wir konnten bei Menken (Bodelschwingher Straße) unterkommen. Da wohnten wir einige Tage im Bunker. Der war groß und wurde jetzt nicht mehr gebraucht. Das Lazarett in unserem Haus musste geheizt werden; dafür war mein Vater zuständig. Kohlen waren nicht mehr da. So sollten die Möbel aus dem Kinderzimmer, der Kindertisch und die Eckbank, zerhackt und verfeuert werden. Auf das Bitten meiner Mutter hin und dem „Vorzeigen“ meiner Zwillingsgeschwister, die ja erst zwei Jahre alt waren, wurde die Spielecke nicht verfeuert. Die Soldaten hatten ein Herz für Kinder! So musste unser Vater auf die Suche nach Brennmaterial gehen.

Irgendwann habe ich den ersten schwarzen Soldaten in meinem Leben gesehen. Ich wusste nicht wieso der so aussah. Erst als er lachte, habe ich mich von meinem Schrecken erholt.
Die Amerikaner hatten Anweisung, keine deutschen Toiletten zu benutzten (Angst vor Seuchen). Zum Grausen meines Vaters hoben sie im Garten eine Grube für den „Donnerbalken“ aus. Mein Vater hatte dort in der Nähe eine Pistole vergraben. Die hatten Angestellte der Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG) zur Selbstverteidigung bekommen. Dem Aufruf der Amerikaner zur Waffenabgabe war er nicht gefolgt. Er hatte die Pistole in Ölpapier eingewickelt, in ein Einmachglas gelegt und im Garten vergraben.
Die Pistole musste jetzt weg; sie hatte aber auch einen Wert. So grub er sie heimlich aus und versteckte sie in einem Weidenkorb, in den er Stiefmütterchen gepackt hatte. Am nächsten Tag ging er mit einem Spaten und einem Korb zum katholischen Friedhof. Auf dem Weg zum Grab seiner Mutter kamen vom Friedhofskreuz her zwei Amerikaner mit dem Gewehr im Anschlag. Er konnte das Einmachglas noch an der nächsten Gruft verstecken. Die Soldaten schossen auf einen Hasen. Als sie meinen Vater sahen, haben sie ihn „gefilzt“ und gefragt, was er hier mache. Nachdem sie weg waren, hat mein Vater die „eingemachte Pistole“ in dem Grab seiner Mutter versteckt.
Nach einigen Tagen wurde unser Haus wieder freigegeben. Die Pistole hat mein Vater nach Wochen, als die Amerikaner weg waren, über Mittelsmänner an einen Bauern verkauft. Dafür bekam er einen Sack Weizen.

Sechs Wochen nach den Amerikanern kamen die Engländer und bauten eine provisorische Verwaltung und Ordnung auf. Die Versorgungslage war noch sehr kritisch. Ich musste immer noch Milch holen bei Peickenkamps in der Rittershofer Straße in der Mengeder Heide. Auf meinem Weg am Urnenfeld vorbei meine ich gesehen zu haben, dass dort unter Aufsicht von Amerikanern oder Engländern ein Massengrab durch Frauen und alte Männer aufgegraben wurde; auch, dass sich einige Personen dabei übergeben mussten. Ich würde mir wünschen, dass ich das in meiner Erinnerung mit anderen Berichten aus unserer Gegend verwechselt habe.

Die Panzer und der Kriegsschrott

Bei der Verteidigung von Bodelschwingh waren drei amerikanische Panzer abgeschossen worden. Darauf hatten die Amerikaner Bodelschwingh mehrere Tage mit Artilleriebeschuss belegt. Einer der abgeschossenen Panzer stand vor der Litfaßsäule vor der Klümpchenbude beim Kötter Wiese. Die beiden anderen waren in Höhe des heutigen Göllenkamp und Quakmannweges in Richtung westf. Eisenbahn abgeschossen worden. Der Panzer vor der Klümpchenbude war schnell weg, die beiden anderen standen noch einige Zeit im Feld. Die Türme waren abgesprengt. Wir Kinder hatten jetzt mehr Bewegungsfreiheit. Da haben wir nachgeschaut, ob wir nicht von den Panzern etwas gebrauchen, mitnehmen könnten. Es hat aber so gestunken, dass wir es nicht gewagt haben, in den Panzer zu klettern. Außerdem waren da geborstene Stahlplatten mit Rändern, scharf wie Messer.

Da, wo die FLAK–Batterie der Wehrmacht gestanden hatte, war schon mehr zu holen. In den Bahnkörper waren „Ein-Mann-Deckungslöcher“ gegraben worden. Hier sollten beim Angriff der Jagdbomber auf einen Zug der Lockführer, Heizer und Bremser Deckung finden. In diese Löcher hatten die Soldaten Munitionskisten geworfen. Eine Kiste enthielt drei Granaten, komplett mit Kartuschen für die Treibladung. Um an die Treibladung heran zu kommen, haben wir mit einem Hammer vorsichtig auf den kupfernen Leitkranz geklopft, bis wir die Granate von der Kartusche abziehen konnten. Die Treibladung war kein Sprengpulver, brannte nicht explosionsartig ab. Das waren kleine runde Zylinder wie Pellets. Mit denen konnte man schön zündeln, das fauchte wunderbar. In welcher Gefahr wir uns befanden, war uns nicht bewusst.
Auf unseren Streifzügen fanden wir auch Kisten mit Maschinengewehr (MG) Munition. Die war gegurtet und jede fünfte Patrone war eine mit Leuchtspur-Munition. So ein Gurt wurde mit dem Geschoß zuerst in einen Sandhaufen eingebuddelt, dann auf jede fünfte Patrone ein Nagel aufgesetzt und mit etwas Abstand mit einer Schüppe drauf gehauen. Aus dem Sandhaufen zischten dann Feuerschlangen.
Einige von uns haben auch versucht, MG-Munition im Schraubstock durch Schlagen auf den Zünder abzufeuern, um die Patronen(Messing)hülse zu gewinnen. Der Verlust von Fingern und Verletzungen waren die Folge.
Der Handel mit Kriegsmaterial- und Schrott war für uns Jugendliche ein gutes Geschäft. Wir hatten immer Geld „auf der Patte“. Was so herum lag, wurde eingesammelt. Mancher Bodelschwingher rieb sich die Augen, wenn er einige Zeit nicht auf sein Material geachtet hatte. Dem Schloßherrn soll es mit den verbuddelten Zinkdächern der Stallungen auch so gegangen sein.

Die Schule hatte im September wieder angefangen. Das Leben normalisierte sich etwas. Wir hatten auch nicht mehr so viel Zeit wie früher. Irgendwann war der Schrottmarkt abgegrast und nur noch die großen, schwer beweglichen Teile waren übrig geblieben. So war unsere letzte Aktion der Abtransport von Teilen eines FLAK-Scheinwerfers (150 cm), der auf dem Bodelschwingher Berg gestanden hatte. Die haben wir gemeinsam mit einem Handwagen zu einem Schrotthändler nach Mengede gefahren und zu Geld gemacht.

Ich möchte meinen Bericht nicht schließen, ohne an einige Freunde zu denken, die den Weg in die Nachkriegs-Normalität nicht gefunden haben. Mangels Masse haben sie nach unserer gemeinsamen Zeit Sachen gefunden, die andere noch nicht verloren hatten. Wenn es auch Unrecht war, was sie getan haben, so sollte man ihnen doch zu Gute halten, dass sie in einer schlimmen orientierungslosen Zeit aufgewachsen sind, in der gute Beispiele nicht so häufig waren.

Mit der Anrufung Mariens, die ich am Anfang erwähnt habe, die mir und so vielen anderen in der Not Trost und Hilfe war, möchte ich meinen Bericht schließen. Ich verbinde das auch mit der Hoffnung, dass wir alle bemüht und erfolgreich sind, Konflikte ohne Waffen zu lösen.

Hilf Maria, es ist Zeit.

Hilf Maria, es ist Zeit,
Mutter der Barmherzigkeit!
Du bist mächtig, uns in Nöten
Und Gefahren zu erretten;
Denn wo Menschenhilf gebricht,
Mangelt doch die deine nicht.

Nein, du kannst das heiße Flehen
Deiner Kinder nicht verschmähen;
Zeige, dass du Mutter bist,
Wo die Not am größten ist!
Hilf, Maria es ist Zeit,
Mutter der Barmherzigkeit.