Erinnerungen an das Kriegsende (14)

von Klaus Völkmann

(*1939) Im Orde, aufgeschrieben von Otto Schmidt im Februar 2009.

Als der Zweite Weltkrieg in Bodelschwingh zu Ende ging, war ich viereinhalb Jahre alt.
Ich kann mich an die häufigen Fliegeralarme erinnern. Die Eltern holten mich aus dem Bett und wir gingen in den kalten und feuchten Luftschutzkeller. Den hatte mein Vater seitlich vom Haus angebaut. Hier saßen wir, häufig mit Verwandten und Nachbarn, eng zusammen gedrängt und warteten angstvoll auf die Entwarnung. Die Zeit wurde vom Gedröhn der Bomber, den Explosionen, den Einschlägen, dem Gejaule der Stukas und dem Getacker der Flak zerhackt. In unserem Luftschutzkeller hatten bis zu 15 Personen Platz, aber nur dicht aneinander gedrängt. Im Keller war Grundwasser; das musste mit einer Handpumpe nach draußen gefördert werden. Das besorgte meistens Erich Burand, der war älter als ich.

Das Haus unserer Nachbarn Hagemann hatte einen Volltreffer bekommen. Sie selbst waren mit dem Leben davon gekommen. Die Tiere, eine Kuh, Schweine und Hühner, liefen vor dem Haus herum. Dies ist eine erste und bildhafte Erinnerung die ich habe. Mein Onkel Heinrich von gegenüber hat dann seine Schmiede für die Tiere geöffnet, so hatten sie eine vorläufige Bleibe. Die Kuh lief mit den Schweinen immer linksherum um das große Schmiedefeuer (die Esse), immer links herum! Später sind dann Hagemanns mit den Tieren in das Bauernhaus von Gommen gezogen (s. a. Erinnerungen von Helmut Gommen).

In der Straße Im Orde, auf dem noch unbebauten Feld, zwischen dem Abzweig Wachteloh und dem Abzweig Kösterstraße, stand eine Flak (Flugabwehrkanone), von welchem Typ, kann ich nicht sagen. Hinter unserem Haus war eine Eisenbahn-Flak-Batterie mit vier Flugabwehrkanonen in Stellung gegangen. Vor einigen Jahren habe ich das Haus der Nachbarn Buschmann übernehmen können. Bei Aufräumarbeiten haben wir eine Munitionskartusche vom Kaliber 12, 8 cm gefunden.
Während der Kriegszeit durften nur kriegswichtige Fahrzeuge mit Sondererlaubnis bewegt werden. Benzin war streng rationiert. Zivile Fahrzeuge waren stillgelegt, zwangsweise von der Wehrmacht eingezogen, oder vor ihr versteckt worden.
Deutschland war auf seine eigenen (kleinen) Ölvorkommen, auf Öl aus den eroberten Ostgebieten, dem aus der Kohle gewonnenen Synthese-Benzin und dem Benzol der Kokereien angewiesen. Bei der Benzin-Synthese wurde auch Propan und Butan als Gas produziert, das verflüssigt in Stahlflaschen gepumpt werden konnte.
Mit diesem Gas konnten auch Benzinmotoren betrieben werden. Die Fahrzeuge mussten, wie auch in der Gegenwart, mit Benzin „warm gefahren“ werden und wurden dann auf Gasbetrieb umgeschaltet.
Mein Vater wurde verpflichtet, in seinem Betrieb Personen- und Lastkraftwagen auf Gasbetrieb umzurüsten. Schon vor dem Ende des Krieges war die Versorgung der Wehrmacht und der Luftwaffe mit Benzin praktisch zusammengebrochen. Die Raffinerien und Syntheseanlagen lagen in Schutt und Asche, die eroberten Gebiete waren zurückerobert. Daher gab es auch kein Flüssiggas mehr. Jetzt erinnerte man sich an die Möglichkeit, Holz zu verschwelen (Holzvergaser) und daraus Brenngas (Holzgas) zu gewinnen. Also wurden in unserem Betrieb die Fahrzeuge auf Holzvergaser umgestellt: Das waren die Autos, die vor der Kühlerhaube, hinter dem Fahrerhaus oder auf dem Kofferraum so eine Art Badeofen (Holzreaktor) hatten.

Fast alle Männer im wehrfähigen Alter waren als Soldaten eingezogen, auch Automechaniker fehlten. Von der Reichsregierung wurden u. a. Kriegsgefangene als Arbeitskräfte zwangsverpflichtet. In unserem Betrieb arbeiteten der Franzose Moritz und zwei Belgier, die Zwillingsbrüder Napoleon und Josef (Westarbeiter). Meine Mutter kochte für uns alle; die Drei aßen mit am Tisch. Ihre Schlafstelle hatten sie in unserem Haus in der Dachkammer.
Später wurden uns zusätzlich vier russische Kriegsgefangene, einer von ihnen hieß Iwan und ein anderer Nikolaus, als Zwangsarbeiter zugeteilt. Sie waren im Arbeitslager in der Nähe der Bergehalde (Mengeder Alpen) der Zeche Adolf von Hansemann an der Dönnstraße untergebracht. Mein Vater holte sie dort morgens mit dem Fahrrad von Mengede ab. Dann war er für sie allein verantwortlich. Nach Feierabend musste er sie wieder nach Mengede zurückbringen. Ich habe öfter auf der Fahrradstange gesessen, wenn er neben ihnen her fuhr. Im Gegensatz zu der Verköstigung der Westarbeiter war es verboten, Ostarbeitern Essen zu geben oder mit ihnen an einem Tisch zu sitzen (s. a. Rassengesetze). Die Ostarbeiter bekamen Mittags in 15 l Behältern warme Steckrübensuppe von Mengede geliefert. Meine Mutter steckte ihnen täglich ein Butterbrot zu. Sie haben nicht bis zum Kriegsende bei uns gearbeitet.

Kurz vor dem Ende des Krieges lagen wir unter dem Artilleriebeschuss der Amerikaner. Mein Vater und ich standen im Kellerflur vor dem schmalen Eingang zum Bunker, als eine Granate in unseren Keller einschlug. Durch den Luftdruck waren wir für einen Moment wie an die Wand festgenagelt. Verletzt waren wir nicht. Meine Mutter hatte ihr gutes Porzellan im Kellerflur in Sicherheit gebracht, davon war nichts mehr zu gebrauchen. Die Granate selbst war nicht explodiert, irgendwer muss sie aus dem Keller fortgeschafft haben.

Als die Amerikaner kamen und sahen, dass bei uns drei zwangsverpflichtete Arbeiter im Betrieb waren, haben sie meinen Vater an die Wand gestellt. Er hatte Angst um sein Leben. Der Belgier Napoleon war dann dazu gekommen und hatte für meinen Vater gesprochen, dass er immer gut zu ihnen gewesen sei. Daraufhin ließen die Soldaten von ihm ab. Mein Vater hatte mit den Dreien viel in ihrer Muttersprache Französisch gesprochen, so gab es keine Sprach- und Verständnisprobleme. Aus dem Zwangsarbeitsverhältnis mit dem Franzosen Moritz und den Belgiern Napoleon und Josef und ihren Familien ist nach dem Krieg ein Freundschaftsverhältnis geworden. Diese Freundschaft hat weit über den Tod meiner Eltern hinaus, bis in die dritte Generation unserer Familie bestanden. Bis zum Jahre 2001 haben uns unsere belgischen Freunde jährlich besucht. Danach konnten sie aus Altersgründen die Reise nach Deutschland nicht mehr auf sich nehmen. Meine Frau Ute und ich haben sie dann weiter in Belgien in Antwerpen besucht. Heute lebt nur noch die Frau von Napoleon, unsere Helena, leider in einem geschlossenen Heim.