Erinnerungen an das Kriegsende (8)

Eheleute Szalla

Hans Werner (*1930), Wehrling und Jutta (*1931) Szalla, geb. Schmidt, Westerfilder Straße, aufgeschrieben von Otto Schmidt im Februar 2009.

Hans Werner Szalla erinnert sich:

So habe ich das Kriegsende erlebt: Die Amerikaner besetzten Westerfilde und Bodelschwingh. Nachdem die Amerikaner Quartier genommen hatten, feierten sie in unserer katholischen Kirche Mariä Heimsuchung mit ihrem Feldgeistlichen Dankgottesdienst. Dazu waren sie mit ihren Jeep bis an die Kirchentür vorgefahren. Ich war bei den Messdienern mit dabei. Während des Gottesdienstes kam von irgendwoher Granatenbeschuss. Die Soldaten suchten auf einen Schlag „volle Deckung“ unter den Kirchenbänken. Als deutscher Junge war ich überrascht und verblüfft, dass erwachsene Soldaten so viel Angst hatten.

Während des Krieges verbrachte ich eine Zeit in Werne an der Lippe. Dort ging ich im Kloster zu den Kapuzinern in die Schule. Nachmittags mussten wir Jungen helfen, Kriegsgerät einzupacken: So z. B. Pistolen der Fa. Walter (P 38). Ich wollte auch gern so eine Pistole haben: Also habe ich beim verpacken der Pistolen eine davon hinter meinem Hosenbund verschwinden lassen. Es gelang mir auch, sie mitzunehmen. Meine Freunde hatten die passende Munition für die Pistole geklaut. So konnten wir nach der Arbeit in den Lippe-Wiesen Schießübungen veranstalten: Acht Schuß im Magazin und ein Schuß im Lauf. Manchmal gab es auch „Versager“, Fehlschüsse.

Als der Feind näher rückte und ich auch in Werne nicht mehr sicher war, holte mich mein Vater mit dem Fahrrad ab. Die Pistole hatte ich mitgenommen. Zu Haus angekommen, hatte ich sie im Garten vergraben; ich wollte sie ja nicht abgeben. Dann waren aber die Amerikaner da und ich musste meinem Vater mein Geheimnis beichten. Dem wurde „ganz anders“. Er ließ die Pistole verschwinden.

Die Amerikaner waren in Bodelschwingh unter anderem mit zwei Panzern eingerückt, vermutlich von Mengede oder Dingen kommend. Sie wurden von einem Tiger-Panzer, der vor dem Bauernhof Sträter auf dem „Dinger Berg“ in Stellung gegangen war, abgeschossen.

In der Nähe der Straße am Kirchenfeld, heute Völkmannsweg, oder im Bereich der ehemaligen Feldscheune am Schloß Bodelschwingh stand amerikanische Artillerie. Die lieferte sich mit der deutschen Artillerie, die auf dem Haarstrang oder in Kirchlinde in Stellung gegangen war, ein Gefecht. Unsere katholische Kirche wurde vielfach von Granaten und Splittern getroffen, der Beschuss kam wohl von beiden Seiten der Front.

Meine Mutter (genannt „Mutter Anna“) war Vorsitzende des katholischen Müttervereins. Sie wünschte sich, dass ich Messdiener würde. Ich ging auch gern zur Übungsstunde und diente in der heiligen Messe. Unter dem Messdiener-Talar trugen wir unsere Pimpf-Kleidung, auf die wir sehr stolz waren. Der Pfarrer sah das, sagte aber nichts dazu.

Mein Vater äußerte sich zu meiner Mutter kritisch gegenüber dem Führer und dem Dritten Reich. Ich war so voll von dem, was ich beim Jungvolk gehört und gelernt hatte, dass ich ihm sagte, er solle so etwas nicht wieder sagen, sonst würde ich ihn anzeigen. So haben die Nationalsozialisten, die hier am Ort waren, uns Kinder dazu gebracht, uns gegen unsere Eltern zu stellen und möglicherweise Unglück über sie zu bringen.

Meine Mutter und Frau Buhrand (Kösterstraße) hatten zusammen im Saal der Wirtschaft Krämer (Westerfilde) gearbeitet: Löcher in Knöpfe bohren und sortieren. Wir wohnten im Wehrling; später waren wir dann „ausgebombt“. Meine Mutter und Frau Burand kannten sich aus der Zusammenarbeit der evangelischen Frauenhilfe und des katholischen Müttervereins. Wir konnten eine kleine Wohnung bei der Familie Burand in der Kösterstraße beziehen, welche über den Krieg hinaus lange unser Heim war.

Bei den Westerfilder Bauern gab es am Rand des heutigen Golfplatzes (Mosselde) eine Mergelkuhle. Hier hatten die Bauern in früherer Zeit den Mergel vom Hang des Berges abgebaut. Dadurch war ein freier Platz entstanden, der zum Wald hin durch eine Steilwand begrenzt war. Auf diesem Platz wurde von der Hitlerjungend (HJ) öfter ein Biwak abgehalten.

In die Mergelwand, also in den Berg, hatten Parteigenossen einen Stollen getrieben, der als Luftschutzbunker benutzt worden sein soll. Heute kann man davon nichts mehr erkennen.

Jutta Szalla geb. Schmidt erinnert sich:

Wir waren vier Geschwister, der älteste Bruder hieß Josef, dann kam meine Schwester Magdalena, mein Bruder Helmut und ich. Wir wohnten an der Westerfilder Straße Nr. 39 und waren Nachbarn der Familie Schmidt (Georg Adam Schmidt). Uns gegenüber wohnte der Schneidermeister Heinrich Schäfer mit seiner Familie. Mein Vater Josef arbeitete untertage auf der Zeche Westhausen als Maschinenfahrsteiger.

Mein Bruder Josef, Jahrgang 1920, musste mit 20 Jahren zuerst den Arbeitsdienst ableisten und wurde dann zur Wehrmacht eingezogen. Ausgebildet wurde er in Polen. Mein Vater war darüber sehr ungehalten und äußerte sich so: “… und das alles wegen des Sch… Korridors (der West- und Ostpreußen durch polnisches Hoheitsgebiet trennte)“.

Josef wurde zuerst 1941 in Polen und dann Anfang 1942 in Russland verwundet. Nachdem die letzte Verletzung geheilt war, wurde er im Dezember 1942 wieder nach Russland an die Ostfront kommandiert. Der Zug fuhr über Dortmund, wurde da aufgehalten und konnte für Stunden nicht weiterfahren. Mein Bruder erhielt für eine Stunde Urlaub auf Ehrenwort und konnte uns einen Blitzbesuch machen. Im November ist er in Maritinow, südlich von Reschew gefallen.

Mein Bruder Helmut, Jahrgang 1925, wurde ebenfalls eingezogen. Er kam an die Westfront. Nachdem die Alliierten im Sommer 1944 in der Normandie gelandet waren, bekamen wir ein Jahr kein Lebenszeichen mehr von ihm. Dann schickte er uns eine Postkarte aus einem Gefangenenlager in England. Dort war er drei Jahre in Gefangenschaft, bis 1947.

Mein Vater war verbittert darüber, dass sein ältester Sohn Josef gefallen, und sein Sohn Helmut ebenfalls Soldat sein musste. Vater war einmal in der Straßenbahn mit vier leitenden Herren der Zeche Westhausen auf dem Weg nach Dortmund. Im Gespräch mit ihnen konnte er sich nicht beherrschen und schimpfte wegen der feindlichen Angriffe, der Bombardierung. Einem der Herrn hat dies nicht gefallen und er hat meinen Vater angezeigt. Daraufhin musste er öfter zur Gestapo zum Verhör. Ich wusste nichts davon, wurde aber gefragt, was denn mit meinem Vater sei.

In dieser Zeit hatte mein Vater im November 1944 in der Grube einen Arbeitsunfall. Danach kam die Gestapo in Zivil ins Haus. Als er wieder gesund war, sind meine Eltern zum Wallfahrtsort nach Kevelaer gefahren um dort am Gnadenbild der Gottesmutter Maria Dank zu sagen. Von der Wallfahrt hatten sie ein Andenken-Bild mitgebracht. Dieses Blatt mit dem Gnadenbild lag in einer Schale auf dem Tisch in unserem Wohnzimmer.

Am gleichen Abend klingelte es. Ein Gestapo-Mann stand vor der Tür und fragte nach meinem Vater. Ich bat ihn ins Wohnzimmer, wo meine Eltern saßen. Der Mann verließ nach einer halben Stunde wieder unsere Wohnung. Meine Mutter erzählte nach dem Krieg: Der Gestapo-Mann sollte meinen Vater abholen… Das Gnadenbild hatte er mehrmals in die Hand genommen und dann gesagt: „Herr Schmidt, Sie hören von mir“!

Dies alles muss sich wohl im Januar, Februar 1945 zugetragen haben. Die Verhandlungen gegen meinen Vater wurden in Dortmund geführt und danach sein Todesurteil gesprochen. Das „letzte Wort“ musste das Oberlandesgericht in Hamm sprechen. Ich vermute, dass die Akte meines Vaters durch die vielen Bombenangriffe auf Hamm vernichtet wurde.

Das Urteil wurde nicht vollstreckt, mein Vater musste nicht sterben. Er war nach dieser schlimmen Zeit seelisch und körperlich ein Wrack!

Vom zehnten Lebensjahr, bis zur einsetzenden Evakuierung Mitte 1943, war ich bei den Jungmädels (BDM) organisiert. Wir besaßen eine Uniform bestehend aus: schwarzem Halstuch mit braunem Lederknoten, blauem Rock, weißer Bluse und Kletterweste. Mit unserer Leiterin trafen wir uns in der Freigrafen-Gemeinschaftsschule (ehem. kath. Freusberg-­, danach Freigrafen-Schule). Oft gingen wir dann zur Brietenstraße, um in Feld und Aue bei guter Luft Lieder zu lernen und zu singen. Zweimal im Monat fuhren wir Sonntags zu einer Gemeinschafts-Veranstaltung nach Dortmund zum Hiltropwall. Unser Pastor Stöcker hatte es so eingerichtet, dass wir vorher den Gottesdienst um sieben:00 Uhr besuchen konnten. Kurz vor dem Schlusssegen drehte er sich um. Das war für uns der Wink, die Kirche zu verlassen und zur Straßenbahn zu laufen; die fuhr pünktlich um acht Uhr nach Dortmund.

Nachdem mein ältester Bruder Josef gefallen und mein Bruder Helmut Soldat geworden war, sollte ich im Sommer 1943 mit meiner Schulklasse nach Baden evakuiert werden. Mein Vater wollte mich nicht hergeben; er hatte Angst, er würde mich verlieren. Ich blieb zu Hause. In die Schule brauchte ich nicht mehr zu gehen, die war geschlossen. Im siebten Schuljahr war meine Schulzeit zunächst zu Ende.

Ich musste mich überall, wo es ging, nützlich machen. Die Bombardierungen wurden immer häufiger. 1944 war ich dreizehn Jahre alt und ein dünnes, hochgeschossenes Mädchen. Gegenüber im Haus der Familie Schäfer wohnte das Ehepaar Berkholz. Herr Berkholz arbeitete, auch wie mein Vater, auf der Zeche. Nach Feierabend half er in der Nachbarschaft, immer da, wo er gebraucht wurde. Er hatte die Eisenstäbe vor unseren Kellerfenstern so „präpariert“, dass man sie herausnehmen und wieder einsetzen konnte, ohne dass das auffiel. Die Kellerfenster waren im Falle eines Bombentreffers vielleicht ein Notausstieg oder ein Einstieg für dünne Kinder. Für den Noteinstieg, etwa um Eingeschlossene mit Wasser und Essen zu versorgen, wurde ich probeweise durch die Kellerfenster heruntergelassen und wieder hochgezogen. Zum Einsatz bin ich aber nicht gekommen.

Mein Vater hatte schon frühzeitig einen Luftschutzraum in unseren Keller eingebaut. Es war ein kleiner Raum, mit bergmännischen Türstock-Ausbau und Splitterschutz versehen. Der Keller war aber doch so groß, dass unsere Nachbarn, Oma Emma und Opa Adam Schmidt, auch noch Platz hatten. Spätestens, wenn der Hauptalarm kam, sollten wir alle im Keller sein. Ich musste als letzte (und schnellste) den Volksempfänger „ausstöpseln“ und mit in den Keller bringen. Das Warnsystem vor den Bombenangriffen bestand aus den Luftschutzsirenen und dem Rundfunk (auch Drahtfunk).

Kurz vor dem Bombenabwurf kam dann das Tarnwort: Bratsche, Bratsche, Bratsche (Bombenabwurf), allerhöchste Zeit, den Stecker zu ziehen und in den Keller zu verschwinden (Anmerkung am Textende).

Alte Leute sind oft merkwürdig. Oft sah ich, dass Opa Adam draußen stand und den Himmel nach Bombern absuchte. Den musste ich dann auch noch überreden, mitzukommen.

Der Müll der Haushalte war entsprechend der Not zurück­gegangen, musste aber doch entsorgt werden. Das machten die russischen Zwangsarbeiter, die im Barackenlager 1 am Rohdesdiek oder im Lager 2 an der Wenemarstraße untergebracht waren. Bei Strafe war es verboten, mit ihnen zu reden oder ihnen etwas zuzustecken. Der Hunger sah ihnen aus den Augen. So schmierte meine Mutter Butterbrote, wie einige andere Familien auch, verpackte sie gut und deponierte sie in die Mülltonne, wo sie auch gefunden wurden.

Von dem Kampf um Bodelschwingh und Westerfilde habe ich nicht viel mitbekommen. Ich weiß, dass deutsche Soldaten ins Haus kamen und in unserer Mansarde ein „MG-Nest“ einrichten wollten. Dagegen wehrte sich mein Vater und stritt mit ihnen. Sie sind dann zur Familie Schäfer „nach gegenüber“ gegangen. Dort waren zu der Zeit nur Frauen im Haus; die konnten sich dagegen nicht wehren. Aus ihrer Mansarde heraus haben sie in Richtung Zeche Westhausen geschossen.

Die Zeche blieb fast bis zum Schluss, bis zur Bombardierung am 7. und 8. März von Luftangriffen verschont. Jetzt waren viele Opfer unter der Zivilbevölkerung und den Zwangsarbeitern zu beklagen. Auch die Tagesanlagen der Zeche waren z. T. zerstört. So fehlte der Dampf für die Förder­maschinen und die Druckluft. Im April wurde die Förderung endgültig eingestellt. Mitte Mai waren die Kessel und Kompressoren repariert; Dampf und Druckluft standen wieder zur Verfügung. Die Förderung wurde wieder aufgenommen. Die vierte Sohle war in der Zwischenzeit von Wasser überflutet; die Zeche drohte „abzusaufen“. Gefördert wurde jetzt Wasser. Dazu wurden Förderwagen auf den Förderkorb geschoben, die dann untertage voll Wasser liefen und gehoben wurden. Ende Mai 1945 gab es dann für die Zeche Westhausen von dem Kraftwerk der Dortmunder Union wieder Strom; so konnten Pumpen die Grube frei pumpen. Die Strecken standen noch vielfach in Teilen unter Wasser. Es wurden immer wieder Pumpen gebraucht.

Um diese Pumpen abholen zu können, hatte mein Vater von den Amerikanern einen Erlaubnisschein (permit) bekommen; damit konnte er sich frei bewegen. Unser Nachbar, Herr Berkholz, hatte ein Motorrad, noch von seiner Mitgliedschaft in der Motor-Hitlerjugend, das hatte er im Keller versteckt. Mit dem „permit (Fahr-Erlaubnisschein)“ der Besatzer bekamen sie auch Benzin für das Motorrad und fuhren dann gemeinsam zur Zeche Hansa. Dort wurden ihnen die Pumpen für die Zeche Westhausen geliehen.

Ganz langsam, Stück für Stück kehrte wieder ein wenig Normalität in das Leben ein. So wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen, erst für die ersten vier Klassen, dann auch für die Älteren von uns. Meine Klasse hatte in der Evakuierung in Baden Unterricht durch unsere Lehrerin Frl. Schlüter bekommen. Ich war zu Haus geblieben, meine Bildung war jetzt zu ergänzen. So besuchte ich als 15-jährige die achte, die Abschlußklasse. Was mir an Wissen fehlte, oder was ich vergessen hatte, durfte ich dreimal in der Woche nachmittags unentgeltlich bei Frl. Schlüter lernen.

Anmerkung:

Nachdem die Luftschutzsirenen Voralarm gegeben hatten, wurden die Radiosender im Lang- oder Mittelwellen-Bereich ausgeschaltet. Ohne Abschaltung der Radiosender hätten die feindlichen Aufklärer und Bomber die Möglichkeit gehabt, durch Funkpeilung die Standorte der aktiven Sender festzustellen und damit bei künftigen Bombardierungen die Antennen zu zerstören. Wer ein Telefon hatte, konnte den Volksempfänger über die Antennenweiche auf die Telefonleitung schalten und weiterhören (Hoch-Frequenz-Drahtfunk (HF)). Es gab zwei Möglichkeiten, sich über die drohende Bombardierung zu informieren. Die legale Möglichkeit bestand darin, den Warnfunk der Gauleitung auf Mittelwelle (Klartext) zu hören. Diese Information wurde oft als geschönt bewertet. Die illegale Möglichkeit bestand darin, den Langwellensender „Primadonna“, der Luftwaffe (Luftwarndienst) abzuhören, der vermutlich von Beckum sendete und die Fliegerabwehr (Flak-Stellungen) informierte. Dieser Sender brachte verschlüsselt (Tarnworte) Informationen über Anflugrichtung, Entfernung, Höhe der Bomber und Bombenabwurf. Der Tarnname für den Bombenabwurf war „Bratsche“. Mit der Kenntnis des Tarnnamens der  Stadt, der Bedeutung der Tarnnamen für die Planquadrate und einer „organisierten“ Karte war man besser informiert und … lebte doppelt gefährlich.