Erinnerungen an das Kriegsende (4)

Kleine Niederschrift von Alma Siebald

wohnhaft Westerfilder Straße, von März bis Juni 1945, übertragen aus der Deutschen Schrift von Gisela Lagoda (*25.03.1939 / †26.11.2017), 2008 von Annemarie Heinrichs und Otto Schmidt auf den PC übertragen.

Im März 1945

Liebe Kinder!

Damit ihr später etwas über unseren Lebenslauf während der letzten Zeit des Krieges erfahrt, will ich Euch etwas niederschreiben.

Also am 7. März 1945, Mittags, 5 Minuten vor 12 Uhr ereilte uns das schreckliche Schicksal, daß auch unser Heim (Hans und Alma Siebald, Westerfilder Straße 27) durch Bomben zerstört wurde. Werkstatt (Sattlerei Siebald) mit Küche und Schlachthaus (Metzgerei Steffen) waren ganz weg, denn eine schwere Bombe ist auf die Stelle, wo ungefähr unser Schuppen stand, eingeschlagen.

Als wir aus dem Keller kamen, bot sich uns ein schreckliches Bild. Das Haus von Stuckmann (gegenüber von Siebald), Linden (nach dem Krieg „Lindeneck“), Nöthe und auch der Saal von Schwenke lagen in Trümmer. Auch das Haus von Onkel Wilhelm (Siebald, Rohdesdiek, Ecke Westerfilder Straße) Haus lag in Trümmern. Das Haus von Nöthe stand noch, ist aber später ausgebrannt. Ein schwerer Volltreffer hat Linden getroffen. Alle, die im Keller waren, waren tot. Tante Lilly, Eickmann, Fr. Aries und Aries–Willy mit Frau und zwei Kinder. Onkel Adolf haben sie gar nicht gefunden.

Am Abend sind wir dann zu Onkel Ernst (Schuchard, Am Lehmacker) gegangen. Unsere Sachen haben wir nach und nach geholt, denn im Keller konnten wir nichts lassen, da sofort das Wasser kam. Damit nicht alles einer Stelle war, hat Onkel Otto einiges Bettzeug, vier Stühle/Wohnzimmer und das Schlafzimmer von Hans, sein Schlafzimmer, ein Gemälde und auch das Schlafzimmerbild (schlafender Hirtenknabe) bekommen. Elly (Schuchard, geb. Marx) hat das Clubsofa, Klavier und das weiße Bett mit Bezug untergestellt. Bei Onkel Ernst hatten wir Schreibtisch und Wohnzimmerbüffet und unsere Wäsche und alle Kleinigkeiten untergebracht.

Die Tage gingen dann hin und die Front rückte immer näher. Am 26.3.45 hat Grete (Siebald) (in Nürnberg) ein Telegramm aufgegeben, welches wir am 31.3.45 erhielten: „Erwarte Euch sofort“. Aber leider konnten wir nicht mehr fort. Tagelang hatten wir uns bemüht, durch Hilde Schuchard (die Frau von Otto) weg zu kommen, aber es hat nicht geglückt. Am Karfreitag schickte uns Hans noch von Hamm Nachricht und ich habe einen Brief für (an?) ihn geschrieben. zweimal war er, während wir bei Onkel Ernst waren, da.

Einen Abend war ein Angriff auf Castrop und ich habe da schon gemeint, wir müßten sterben, denn einige Bomben fielen ganz nah.

Ostern hatten wir deutsche Soldaten bei uns, die rückten aber bald wieder ab. Zwei Tage waren sie bei Bauer Stratmann (gegenüber der Straße „Am Lehmacker“, hinter der Reitanlage) im Keller gewesen, zwei Nächte und ein Tag.

Am 7. April morgens waren dann die Amerikaner da. Sie kamen in den Keller und wir hatten alle eine unheimliche Angst, aber es wäre nicht nötig gewesen, denn die Herren bekamen alle eine Zigarette. Durch die Kellerfenster sahen wir, daß es bei Surmann und Onkel Otto brannte, aber sie ließen uns nicht heraus, um etwas retten zu können. Das Haus von Tichmann (heute Drees, gegenüber von Lokal Tante Amanda) brannte auch, ebenso der Bauernhoff von Nierhoff. Bei Nierhoff blieb die Wohnseite stehen. Das Haus von Onkel Ernst hat zwei Treffer bekommen, so daß eine Seite nicht mehr bewohnbar war.

Onkel Heinrich hat gestern etwas Fleisch geschenkt bekommen, und wir haben einiges eingekocht. Onkel Gebhard (Siebald, Ecke Westerfilder Straße/Rohdesdiek) ist nun wieder in seinem Haus, auch Tretter (mit dem Sohn Rolf).

15.April

Früh Sonntags sind Vater und ich allein. Wir hatten von Tante Line ein Stückchen vom Ziegenlamm geschenkt bekommen, dazu habe ich roten (hier fehlt der Begriff der Pflanze,  Feldsalat ?) gekocht, den Frau Tretter und ich gefunden haben. Nachmittags war Herr Steffen hier und Frau Tretter. Gegen Abend waren wir bei Onkel Gebhard; dann kamen auch Tante Mimmi und Hedwig mit den Kindern, um hier zu schlafen.

16.April

Onkel Heinrich mit Familie ist früh wieder ausgezogen und unten in die Wohnung von Steffen ist Frau Reinhold eingezogen. Wir haben den ganzen Tag aufgeräumt, im Garten Zwiebeln gepflanzt und gesät.

17.April

Die Nacht (habe ich) gut geschlafen, denn man ist von dem ungewöhnlichen Arbeiten sehr müde. Des Morgens war Herr Narath (Sattler und Stellmacher, Bodelschwingher Straße) hier, der hat noch einiges Material bekommen. Er hat alles selbst zusammengestellt. Es war für 287 Mark und Vater hat das Geld bekommen. Am Nachmittag waren Vater und ich bei Onkel Ernst, die sind schon wieder am aufräumen und der Maurer am arbeiten. Am Abend haben wir den Laden noch etwas gesäubert, denn Hans sein Schlafzimmer muß wieder nach hier.

18.April

Früh sind wir aufgestanden und nach Onkel Ernst gegangen, um die Sachen alle zurecht zu stellen, denn Heini Budde (Bauer, Nähe Lokal Tante Amanda)  will sie nach hierhin fahren. Wir haben dann alles in den Laden gestellt und sind früh schlafen gegangen.

19.April

Wieder etwas im Garten aufgeräumt, alles liegt voll Minen (Granaten), und es ist eine mühselige Arbeit. Nachmittags waren wir bei Steffens (Metzgerei), denn es gab ein Pfund Rindfleisch. Sie hatten uns unseres zurückgelegt. Onkel Wilhelm ist angefangen sich ein Behelfsheim zu bauen. Er hat von dem Werner (Siebald) schon Hilfe.

20.April

Vater war heute nicht gut zurecht. Immer Schwindel und er hat fast den ganzen Tag zu Bett gelegen. Gegen Abend kam Herr Nordhausen und hat uns besucht, der sprach auch über die Verwüstungen; der Krater in unserem Garten ist ca. zehn Meter breit und fünfMeter tief.

21.April

Heute Morgen waren Vater und ich Wasser holen bei Onkel Heinrich. Seit dem 7. März Frühe hat Westerfilde kein Wasser und kein Licht. In unserem Keller steht Wasser, welches wir zum wischen nehmen. Auch die Leute aus den anderen Häusern holen sich das Wasser und so ist es schon weniger geworden.

22.April

Heute, Sonntag war Vater wieder schwindlig, so daß wir Dr. Pelken bestellt haben. Die Aufregungen der letzten Wochen haben ihn zu sehr mitgenommen und die Sorge um unsere lieben Kinder nagt an uns. Wir leben im Moment unter primitivsten Verhältnissen. Nachmittags waren … hier und ist Vater etwas aufgestanden. Nachher kamen auch Tretters, Onkel Wilhelm und Tante Amanda (Siebald), die haben schon ihr Wohnzimmer im Behelfsheim fertig.

23.April

Heute früh aufgestanden und Steffens Laden rein gemacht, denn da soll Pferdefleisch verkauft werden. Vater hat den ganzen Tag zu Bett gelegen; immer müde und gar keinen Appetit.

24.April

Heute hatten wir ein Pumpe zur Verfügung und den ganzen Nachmittag Wasser aus dem Keller gepumpt. Gegen Abend hatten wir ihn fast leer. Vater ist etwas aufgestanden, des morgens hat er wieder gebrochen. Dann bin ich mit Riechwasser angefangen und nachher war es besser, so daß er etwas Nahrung bei sich behalten hat.

25.April

Früh aufgestanden, einen Eimer Wasser und den Wasserkessel von Schmidt geholt. Nachmittags war es besser mit Vater und wir sind zusammen nach Steffen (Metzger im Haus Siebald) gegangen, denn es gab Fleisch, aber des Morgens schon. Als wir zurück kamen, bin ich nochmals nach Schmidt gegangen und habe Wasser geholt. Vater hat unterdessen den Herd schon angemacht. Der Verkauf von Pferdefleisch ist nach Mengede verlegt. Frau Reinold hat sieben bis zwölf …

(Texteinschub)

Als wir am 9. April wieder morgens wieder nach Bauer Stratmann kamen, bot sich uns ein ganz trauriges Bild, denn alles war geraubt und geplündert. Da wir die guten Sachen mit nach Stratmanns genommen hatten, waren die auch weg, auch zwei Anzüge und zwei Überzüge von Vater und drei gute Kleider von mir und fast alles Bettzeug und Wolldecken. (Die) Bezüge waren abgezogen und darin alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen. Aber nicht unsere Sachen allein, die von Stratmann und Tante Lina auch. Frau Tretter hat mir geholfen, so daß ich noch einiges gerettet habe, denn überall standen die Polen und Russen herum. Heini Stratmann war machtlos, trotzdem hatte er einem Russen noch einen Bettbezug voll Fleisch abgenommen. Am Nachmittag sind Frau Tretter und ich noch einmal mit dem Handwagen nach Onkel Ernst gefahren, alles unter Granat-Beschuß und da bot sich das gleiche Bild. Alles, das so sorgsam Eingepackte lag zerbrochen auf der Erde. Alle schönen Sachen von Annemarie aus dem Büffet zerbrochen. Die Wäsche naß und schmutzig auf dem Fußboden, aber auch alles ausgepackt. Zwei (Ober) Betten, die auf dem Sofa gelegen hatten, waren zerschossen, ebenso mein bester blauer Mantel. Das ganze Haus war durchstöbert und alle Schubladen ausgepackt. Die (Einmach)Gläser halbleer gemacht und stehen gelassen.

26.April

Zuerst Wasser geholt, dann etwas aufgeräumt. Zu Mittag ein paar Reibeplätzchen gebacken. Dann wieder draußen aufgeräumt und Holz gehackt und nachher sind wir eine Stunde bei Onkel Wilhelm im Behelfsheim gewesen. Die Grete (Möller) war auch da. Die hat genau so Sorgen um ihren Günther, wie wir um unsere Kinder. Dann sind wir bei Tretter gewesen und haben dann noch einen Eimer mit Wasser geholt.

27.April

Heute haben wir wieder Wasser bekommen. Tagelang haben zirka 30 Mann gearbeitet (, die Leitungen zu reparieren). Jetzt haben wir wieder Wasser, zuerst nur im Keller.In der Kolonie aber noch nicht, und die Leute haben schon gemerkt, daß wir Wasser haben und stehen (bei uns) Schlange, damit sie auch etwas bekommen, dann brauchen sie es nicht von so weit zu holen.

28.April

Der Tag ist wie jeder andere Samstag verlaufen. Spazieren waren wir auch nicht, denn es regnete. Vater ist immer müde. Heute wurde Richard Lewald beerdigt. Den haben sie tot (auf)gefunden, an der Rennbahn in Castrop.

29.April

Nach dem Kaffee waren wir etwas spazieren und zwar bis nach Dr. Pelken. Es war das erste Mal, daß wir nach dem 7. März bis dahin waren und haben wir mal erst die Verwüstungen in Westerfilde gesehen.

30.April

Habe früh gewaschen, aber nicht mit Wassermotor, denn das Wasser hatte nicht Druck genug und alles trocken bekommen.

1.Mai

Heute Morgen habe ich gebügelt und am Nachmittag kamen Wag(n)ers von Dortmund zu Fuß (zu uns). Sie haben keine Kartoffeln und wollten hier, bei uns mal nachsehen. Eine Mahlzeit haben wir ihr gegeben. Dann ist der Rolf (Tretter) gekommen; mit dem Fahrrad von Rünthe (bei Werne).

2.Mai

Früh Kohlen geholt, zirka 50 Eimer voll und nachher draußen aufgeräumt, damit der Bombentrichter zukommt, denn wir wollen noch Bohnen pflanzen.

3.Mai

Aufgeräumt und nachmittags nach Steffens gegangen, denn es gab pro Kopf 100 Gramm Rindfleisch.

4.Mai

Es hat fast den ganzen Tag geregnet und war ziemlich kalt, so daß wir gar nicht draußen waren und ich habe Strümpfe gestopft.

5.Mai

Heute hat Vater tüchtig geholfen draußen aufräumen und wir haben jetzt die Bahn frei nach dem Bombentrichter.

6.Mai

Sonntag hat es den ganzen Tag geregnet und überall herein geregnet. Wir waren ganz niedergeschlagen. Nachmittags sind wir bei Dachdecker Giese gewesen und er hat uns versprochen, zu kommen.

7.Mai

Den ganzen Tag draußen aufgeräumt, damit der Bombentrichter voll wird. Auch Vater hat tüchtig geholfen.

8.Mai (Kriegsende)

Die Nacht schlecht geschlafen. Die Gedanken kreisen und lassen einen nicht zur Ruhe kommen. Früh gegraben und Nachmittags Einkäufe gemacht u. nochmals bei der Polizei gewesen, um Hilfskräfte zu bekommen.

9.Mai

Früh wieder draußen aufgeräumt. Drei Kinder haben tüchtig geholfen. Jeden Tag dasselbe und Vater hat auch geholfen, so daß er schon Beizeiten ins Bett gegangen ist. Auch habe ich heute Bohnen gelegt.

10.Mai

Früh am Himmelfahrtstage bekamen wir zu unserer größten Freude Nachricht von unserem Hans (nach dem Krieg Inhaber der Wirtschaft Siebald), daß er in Hamm in amerikanischer Gefangenschaft ist. Also Gott sei Dank lebte er noch und hoffen wir auf ein gesundes Wiedersehen und es geht mit neuem Mut an die Arbeit. Vater und ich haben Freudentränen geweint.

11.Mai

Den ganzen Tag draußen am Bombentrichter zumachen gearbeitet und dabei tüchtig geschwitzt. Nachher noch bei Steffen gewesen; aber diese Woche gibt es kein Fleisch.

12.Mai

In der Frühe, am Geburtstag von Vater, haben wir nicht draußen gearbeitet. Unsere Gedanken sind bei unseren Kindern (Hans und Grete), genauso wie ihre Gedanken bei uns sind. Die üblichen Gratulanten kamen und haben ihm alles Gute gewünscht. Hoffen wir das Beste!

13.Mai

Ein schöner Sonntag, wenn nur das große Leid nicht wäre. Wir sind heute mal bis nach Onkel Ernst gewesen, nach dem Kaffee.

14.Mai

Früh morgens kam ein guter Bekannter, Heinrich Dingemann. Wir waren draußen beim Aufräumen und er hat uns geholfen. Die Städter leiden große Not, denn sie haben keine Kartoffeln zu essen. Am Abend bekamen wir einen Brief von Hans vom 7.April, daß er in amerikanischer Gefangenschaft wäre, welches wir bereits wußten.

  1. – 19. Mai

Jeden Tag dieselbe Arbeit, draußen am Bombentrichter arbeiten und wir haben unseren Garten bereits wieder in der alten Ordnung. Manche Schubkarre voll muß gekarrt werden.

20.+21. Mai

Die Pfingsttage sind um. Der erste brachte schönes Wetter, der zweite Regen und lastet das Wetter auf unserem Gemüt.

22.-26. Mai

Die Woche beschert uns jeden Tag dieselbe Arbeit, daß der Bombentrichter zukommt.

27.Mai –2. Juni

Nichts Unerwartetes ist passiert. Es kommen schon einige Soldaten (wieder zurück). Meistens Bergleute. Wir waren in Mengede bei Brefen, Quellenberg und Stänen. Der Schwiegervater von Paul Stänen hat mit Hans (Siebald) gesprochen. Bei Quellenberg haben wir uns vormerken lassen für eine Fahrt, vielleicht bis Minden, um nach …(?) zu kommen (um Hans zu besuchen?).

3.–10.Juni

Die Tage vergehen gleichmäßig. Die Geburtstage von unseren Kindern waren leider recht trübe, denn man konnte nicht einmal gratulieren. Die Bilder stehen unter einem Blumenstrauß. Am 9. und auch am 10. Juni war(en) alle hier. Eine Frau aus Mengede fuhr nach Würzburg und ich habe ihr für Annemarie (Ehefrau von Hans, gebürtig in Würzburg) einen Brief mitgegeben.

Hier endet die kleine Niederschrift von Alma Siebald.