Erinnerungen an das Kriegsende (12)

von Siegfried Nolte

(*1937) Schloßstraße, aufgeschrieben im Januar 2009

Die Jahre 1943 bis Mitte 1944:

Auf dem Bodelschwingher Berg waren Soldaten mit Flakgeschützen (vier Geschütze Kaliber 8.8 cm und drei Scheinwerfer mit einem Durchmesser von 1,50 m) in Stellung gegangen. Auf den Schienen der alten westfälischen Eisenbahn am Güterbahnhof Bodelschwingh stand eine Eisenbahn-Flak-Batterie (vier Geschütze, 12,8 cm, Flak-40). Beide Batterien feuerten bei Bombenangriffen auf Dortmund auf die feindlichen Bomber. Der Gegenangriff durch die Jagdbomber der Alliierten setzte unmittelbar danach ein. Bei einem solchen Angriff auf die in der Nähe verlaufende Straßenbahnlinie 5 wurde ein Jagdbomber von einer 2 cm-Vierlingsflak getroffen. Durch den Notabwurf seiner Bombe wurde das Haus der Familie Buschmann (Schloßstraße) voll getroffen, zwei Tote waren zu beklagen.

Die nächtlichen Fliegeralarme wurden angekündigt durch Sirenen, die auf dem Gebäude der Kohlenwäsche der Zeche Westhausen und auf dem evangelischen Kindergarten in der Hunnenboke installiert waren (Voralarm, Vollalarm, später auch noch akute Luftgefahr, Entwarnung). In den meisten Fällen setzte nach kurzer Zeit dann auch das Schießen der Flak ein. Als Folge wurde die Luft dann „eisenhaltig“, d.h. Granatsplitter, insbesondere die schwereren Granatböden zeigten schon eine ziemliche Durchschlagskraft auf den Dächern.

Ich erinnere ich mich an den Angriff auf die Stickstoffwerke in Ickern, bei dem auch die Region Bodelschwingh in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die beiden Häuser Griemmert und Möhlmeier in der Richterstraße wurden stark beschädigt. Viele Sprengbomben gingen allerdings auf die umliegenden Felder nieder und verursachten tiefe Trichter mit einem geschätzten Durchmesser von 6-7 m; die Scheinwerferstellung am katholsichen Friedhof waren vielleicht das Ziel. Des weiteren ereignete sich 1944 auch die Notlandung einer deutschen Messerschmitt 109 in den damals schon durch Bergsenkung unter Wasser stehenden „Kirchlinder Wiesen“. Der Pilot konnte sich retten; das Flugzeug versank bis zu den Tragflächen im Morast. Eine frühzeitige Bergung des Flugzeugs durch hilfsbereite Bergleute wurde von der örtlichen Führung verboten.

Das Jahr 1945:

Am 7. März 1945 geschah dann der Bombenangriff auf Westerfilde. Das Haus Ramaker in der Straße Im Odemsloh erhielt einen Treffer seitlich in den Keller. Da Bergleute auf dem städtischen Grund auf der gegenüber-liegenden Straßenseite (heute Turnhalle) einen Bunker errichtet hatten, der mit Grubenausbau gesichert war, hatten sich die Bewohner der umliegenden Häuser darin aufgehalten und waren deshalb verschont geblieben. Anders verliefen jedoch die Treffer auf der Westerfilder Straße. Volltreffer im Haus Nierhoff, Ecke Mosselde, viele Tote, Treffer in der Backstube der Bäckerei Nöthe. Ein Haus der Zechensiedlung in der Straße Am Mastbruch brannte vollständig aus.

Auf dem Gelände der Zeche Westhausen befanden sich am Rande einer aufgeschütteten Kokshalde die Wohnbaracken von Zwangsarbeitern aus dem Osten, Arbeiterinnen und Kriegsgefangene , die gezwungen waren, auf der Zeche zu arbeiten. Eine Bombe viel auf eine der Baracken. Aus den Trümmern, die von großen Mengen Koks überschüttet waren, wurden unter der Leitung der Zechenangestellten, Stoffer und Obermeier, mit primitivsten Mitteln, Händen und Schaufeln, viele Verletzte und Tote geborgen. Der Westerfilder Busch in Richtung Schloß Westhusen hatte die meisten Einschläge, mit und ohne Trichter, zu verzeichnen.

Am 8. März 1945 wurde Bodelschwingh dann das Ziel eines weiteren Angriffs. Ein Zechenhaus der sogenannten „Alten Kolonie“ wurde dabei stark beschädigt. Personen kamen nicht zu Schaden, da auf dem Zechengelände nahe dem Maschinenhaus von Schacht 3 (nach dem Krieg Lehrstollen für Berglehrlinge) ein größerer Bunker in eine Halde eingebaut worden war. Dieser wurde von der Bevölkerung beim Ertönen des Alarmsignals sofort aufgesucht.
Eine Bombe war im Garten der Gärtnerei Kraemer, Deininghauser Straße, nahe der Kohlenlagerstätte der Fa. Sandfort explodiert. Schäden an den Dächern und zerborstene Fensterscheiben waren das Ergebnis. Die Angriffe der Jagdbomber auf Eisenbahn und Straßenbahnlinien nahmen zu.

Der März brachte dann noch einige Besonderheiten. Die Schloßstraße wurde durch „Panzersperren“ blockiert. Eine davon war in der Nähe des Eingangs zum Schloßgarten. Nächtlicher Lärm wurde durch mehrere gepanzerte Sturmgeschütze verursacht, die am Morgen danach auf dem Hof Wiese und dem angrenzenden Bürgersteig zu finden waren. Nach einer Betankung aus einer örtlichen Tankstelle (Heinrich Völkmann) setzten die Fahrzeuge, sich gegenseitig abschleppend, nach 3 Tagen ihre Fahrt fort.
In unserer Wohnung wurden sechs deutsche Soldaten einquartiert, die nach ausgiebigem Schlaf wieder zum Einsatz gerufen wurden. Gegen Ende des Monats wurde der feindliche Geschützdonner erheblich lauter. Beim Blick aus dem Fenster zum Hof sah ich im Bereich der Eisenbahn- und Straßenbahntrasse an der Bodelschwingher Straße Funkenfontänen, verbunden mit Explosionsgeräuschen, aufsteigen. Die Erwachsenen erklärten: Das sind die Amerikaner. Über uns flogen jetzt Aufklärungsflugzeuge der Alliierten, wegen ihrer geringen Geschwindigkeit „lahme Enten“ genannt. Da der Beschuss stärker wurde, versammelten sich alle Bewohner des Hauses Schloßstraße Nr. 34 in einem Keller, der mit stabilem Grubenausbau versehen worden war. Es war Anfang April, als sich ein Soldat als Artilleriebeobachter auf dem Dachboden einrichtete. In der darauf folgenden Nacht wurde das Haus mit Granatwerfern beschossen.
Granateinschläge im Dach und auf dem Fensterkreuz in der ersten Etage waren die Folge. Darauf räumte der Bewohner des Dachgeschosses seine gesamten Möbel in den Kellerflur unter die Kellertreppe. Ein Soldat nahm die Beschädigungen im Dachgeschoß in Augenschein und teilte uns danach mit: „Wir starten heute Nacht einen Gegenangriff, wir warten nur noch auf die Fallschirmjäger.“ In der darauf folgenden Nacht war sehr viel Geschützlärm zu hören. Nach einer ungeheuren Detonation saßen wir alle in einer Staubwolke. Der Grund dafür war: Eine Granate war im Hinterhaus schräg durch die Außenmauer direkt in den Kellerflur in die Möbel eingeschlagen und hatte alles zerstört. Durch die Explosion war die Tür unseres Schutzkellers aus den Angeln gerissen worden und hatte eine Mitbewohnerin getroffen. Zuerst war sie besinnungslos; danach hatte sie außer Prellungen keine weiteren Verletzungen. Die Holztreppe aus dem Treppenhaus war in den Keller auf die Möbeltrümmer gefallen. Wasser, Strom und Toilette gab es nicht mehr. Im Laufe des Vormittags kam Vater Hagemann, der mit seiner Familie im Bauernhaus von Gommen wohnte, an das Kellerfenster und rief, bis sich jemand meldete. Er berichtete uns, es würde geredet, wir seien alle tot. Nachdem er uns lebend gefunden hatte, ging er zurück und brachte einen Topf voll warmer Milch für uns Kinder.

Gegenüber der Apotheke Bogan, neben dem Haus Trippe (heute Howarde) war ein Pakgeschütz in Stellung gebracht worden, Zielrichtung: Die Straßenkreuzung bei Wiemann. Der Tag verlief ziemlich ruhig. Gegen Abend sah ich dann aus dem Kellerfenster blickend, wie ein junger deutscher Soldat die Schloßstraße überqueren wollte. Mitten auf der Straße traf ihn dann ein Schuss. Nur ein Wort von ihm, „Mutter“, dann sackte er zusammen. Maschinengewehrfeuer sorgte dafür, dass sich niemand aus dem Haus traute. Kurz darauf war der tote Soldat verschwunden.

Die folgende Nacht war ein einziges Trommelfeuer. Der Morgen brachte das Ergebnis: Eine Granate war in das Haus von Gommen eingeschlagen, drei Mitglieder der Familie Hagemann, die Ehefrau, die Schwiegertochter und der Enkelsohn waren tot. Wilhelm Hagemann erschien an unserem Kellerfenster und bat um Hilfe. Die Enkeltochter, Marga Hagemann war schwer verletzt, wurde dann aber von den einrückenden alliierten Truppen in ein Lazarett gebracht. Im Wohn-Teil des Bauernhauses war der Fußboden in den Keller gefallen, die Zimmerdecke fehlte, ebenso Teile des Daches. Unsere Kellerräume wurden von mehreren amerikanischen Soldaten durchsucht; mitgenommen haben sie nichts.

Unbeschädigte Häuser wurden von den Alliierten als Unterkünfte beschlagnahmt. Die Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen. Im Feld zwischen Deininghauser Straße und der alten westfälischen Bahnstrecke standen zwei abgeschossene alliierte Panzer.

In Westerfilde hatten die Alliierten (in der Nähe von „Tante Amanda“) ein kleines Bauernhaus, in dem ein Ritterkreuzträger mit seinen sechs Soldaten Stellung bezogen hatte, mit Panzern umstellt und zusammengeschossen. Die Soldaten wurden alle schwer verletzt in ein Lazarett hinter der Wäsche der Zeche Westhausen eingeliefert, wobei der Ritterkreuzträger von den Alliierten noch militärisch gegrüßt wurde.

Als die Kampfhandlungen in Bodelschwingh beendet waren und uns die Möglichkeit gegeben war, unsere Keller zu verlassen, wurden die Kellertreppe und die Treppe zur ersten Etage von den Nachbarn notdürftig wieder aufgerichtet. Damit hatten wir nicht nur die Möglichkeit das Haus zu verlassen, sondern auch unsere Toiletten (Plums-Klos) wieder zu benutzen. Die Stromversorgung war total zerstört; Wasser musste von den Schwengel-Pumpen der Häuser Wiese, Kraemer und Barrenbrügge in Eimern oder Wannen geholt werden.

Zwischenzeitlich postierte sich ein Soldat auf der Kreuzung, einen weißen Pfeil in der Hand, der die Richtung Deininghauser Straße vorgab. Kurz darauf fuhr dann eine riesige Fahrzeugkolonne, aus Richtung Castrop von der Schloßstraße kommend, die Deininghauser Straße hinunter und das über mehrere Stunden. Abgesehen davon, dass bei den Besatzern Armbanduhren und Musikinstrumente als Kriegsbeute beliebt waren, verhielten sich die Soldaten der Zivilbevölkerung gegenüber ziemlich korrekt.

Kurz nach Beendigung der Kampfhandlungen wurde jeder, der den Ort verlassen wollte, von Soldaten kontrolliert. In unserem Haus war Opa Keller mit 90 Jahren verstorben. Auf einem zweirädrigen Handkarren wurde der Verstorbene im Sarg von der Schreinerei Haumann zum Friedhof ins Wachteloh gefahren. Auf dem Weg dahin mussten die trauernden Nachbarn mit ansehen, wie der Sarg zur Kontrolle geöffnet wurde.

Für uns Kinder war die Zeit sehr gefährlich, da überall Munition in großen Mengen herum lag. Panzerfäuste, Handgranaten (Stiel und Eier), Flak (2 cm) -, MG- und Karabinermunition in Hülle und Fülle. Es gab unter uns einige etwas ältere Kinder, die schon wussten, welchen Unsinn man mit den verschiedenen Waffen und der Munition anrichten konnte. Wir haben ihnen zugeschaut und schnell gelernt. Es ist mir heute noch rätselhaft, wie wir die Zeit ohne Verletzungen überstanden haben.